Am 29. Juni 2009, dem Europäischen Nibelungentag, wurden in Lorsch die Illustrationen des 'codex nibelungi' (Nibelung-Kodex) für die Weltöffentlichkeit ausgestellt - zum ersten Mal seit der Entstehung des Kodex vor rund 800 Jahren.
Mit der zufälligen Entdeckung und Entschlüsselung eines versteckten Hinweises im Nibelungenlied riefen ein früherer Journalist und ein Mathematiker das quasiwissenschaftliche Projekt 'Nievelheim' ins Leben. Als Laien auf dem Gebiet Nibelungenforschung lösten sie das Rätsel um diesen Hinweis und machten einen der spektakulärsten Funde der deutschen Literatur- und Kunstgeschichte: Die 800 Jahre alten Illustrationen des 'codex nibelungi' mit den Schlüsselszenen der Nibelungensage, dazu eine mündliche Überlieferung durch einen Dichter-Nachfahren und eine ganze Menge von Hintergrundinformationen zu Entstehung und Bedeutung des Nibelungenliedes. Als Philologen und Historiker, als Restauratoren und Herausgeber haben die beiden Hobby-Forscher nach jahrelanger Kleinstarbeit diesen Gral der mittelalterlichen Dichtung zum ersten Mal in der Geschichte einem breiten Publikum in Buchform und in Ausstellungen zugänglich gemacht.

arrow Ein codierter Hinweis
    Ein Zufallsfund löst Forschung aus.

Am Anfang stand die zufällige Entschlüsselung des verborgenen Hinweises in den letzten Strophen der Handschrift C des Nibelungenliedes: Als der Programmierer und Mathematiker Matthias Rummel seinem befreundeten Journalisten Ralf Nievelstein von der Entwicklung einer Dekryptografierungs-Software für codierte Literatur berichtete, gab ihm dieser eine Datei mit digitalisierten Textversionen des Nibelungenliedes zur Entschlüsselung in die Hand. Nievelstein arbeitete gerade an einem Online-Artikel über "Anonyme Autorenschaft in der mediaevalen Literatur" für die Zeitschrift "Philologen 21" (von der nur die Erstausgabe am 29. Februar 2002 erschien). Da das Ritterepos wie gemacht schien für eine Software-Analyse, versprach man sich etwas von dem Versuch, das Programm über den mittelhochdeutschen Text laufen zu lassen. Der Scan brachte dann auch ein sensationelles Ergebnis: Aus dem Originaltext des Nibelungenliedes generierte das Kryptografie-Modul einen Kurztext mit einem Hinweis, dem ein algorithmisches Sprachmuster zugrunde lag. Daran erkannte der Mathematiker Rummel, daß die Textpassage in der C-Kopie des Nibelungenliedes absichtlich implementiert worden war.


arrow Der Dichter fliegt auf
    Das Ende der Anonymität.

Mit der Entdeckung des Hinweises auf einen gewissen "Blikker" und "die Bilder" begann eine fieberhafte Suche nach der Bedeutung desselben. Daraus wurde eine mehrjährige Odyssee und das Forscherteam mußte sich auf das Terrain der Nibelungenforschung begeben, um das Material zutage zu fördern, das es ermöglichte, den adeligen Dichter Bligger II. von Steinach als den 'anonymen' Dichter des Nibelungenliedes auszumachen. Ohne die Hilfe qualifizierten Universitätspersonals und im besonderen ohne die eines angesehenen Bligger-Fachmanns hätten Nievelstein und Rummel das wohl kaum geschafft. Da Bligger II. v. Steinach als Urheber des Werkes identifiziert galt, war nun der 'missing link' zum Bildmaterial der Nibelungendichtung zu finden - ein lebender Nachfahre -, hieß es doch: "... bei denen von Steinach sollten sie (die Bilder) fortan verbleiben...".


arrow Die Suche nach Nachfahren
    ... beginnt bei den Vorfahren.

Die Suche nach 'denen von Steinach' erschien zunächst als ein schier unlösbares Problem, war doch dieses Adelsgeschlecht vom Neckar scheinbar 1653 im Mannesstamme ausgestorben. Wenn etwaige Bilder, wie im Hinweis der Handschrift C beschrieben, in dieser Linie nicht hätten weitergegeben werden können, dann wäre die Spurensuche fast zwecklos. Doch der Zufall war den beiden Forschern erneut gnädig. Bei den Recherchen begegneten sie dem britischen Geneaologen Thomas Alexander Winnston, dessen Erkundigungen innerhalb der diskreten Gesellschaft 'Royal Society of European Pedigree Research' folgendes herausfand: In Schweden lebte seit dem 30-Jährigen Krieg ein protestantischer Zweig der Familie von Steinach. Der letzte Nachfahre, Neidhard von Steinach *) war in den 1970er Jahren nach Deutschland eingewandert. Winnston sei Dank konnte von Steinach in der Region Rheinhessen ausfindig gemacht werden.

*) Sein Nachname lautet anders. Er leitet sich vom Schwedischen Stammsitz der Exil-Steinacher ab und soll hier und anderswo auf ausdrücklichen Wunsch von Neidhard nicht genannt werden.


arrow Neidhard von Steinach
    Eine Begegnung der besonderen Art.

Der Höhepunkt des Projekts Nievelheim sollte für die Forscher die Begegnung mit dem letzten lebenden Nachfahren derer von Steinach sein. Nach geglückter Kontaktaufnahme konnten sie 2006 ein Treffen im Klostergarten von Lorsch vereinbaren, wo der ausgesprochen unterhaltsame Neidhard von Steinach ihnen in einem ausführlichen Gespräch die Geschichte von den Nibelungen ausbreitete, wie sie als stille Post in der Familie von Steinach über Jahrhunderte von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Sie erfuhren von den historischen Nibelungen, von der Entstehung des heute bekannten Nibelungenliedes und bekamen schließlich als die ersten Augenzeugen außerhalb der Familie den Nibelung-Kodex zu Gesicht. Das faszinierende Material und die Aufzeichnung des Interviews sollte den Anstoß geben, das Gesamtwerk in einem Buch herauszugeben.


arrow Eine große *) Fußnote
    Nibelungenlied: Weltkulturerbe - Nibelung-Kodex: Kein Weltkulturerbe!

Die Ausstellung der Bilder am 29. Juni 2009, dem Europäischen Nibelungentag, wirbelte ordentlich Staub auf: Noch während die Presse über das Projekt "Nievelheim" und die Entdeckung der beiden Hobby-Wissenschaftler staunte, erklärte die UNESCO die klösterlichen Abschriften des verschollenen Nibelungenliedes zum Weltkulturerbe. Dem spektakulären Auftauchen des Nibelung-Kodex indes schenkte man bislang nur wenig Beachtung; selbst die Dokumentation einer existierenden mündlichen Überlieferung des Nibelungenliedes und seiner Entstehungsgeschichte wollte man schlicht nicht wahrnehmen.

Die Forscher gaben jedoch keineswegs auf und stellten einen Eilantrag beim Weltkulturerbe-Stiftungsrat UNFOC, um auf diesem Umweg das Gesamtwerk rund um den Nibelung-Kodex als weltweites Kulturerbe anerkennen zu lassen. Nach einer Anhörung scheiterte der Vorstoß und erst hinterher wurde ihnen klar, daß das auch besser war - denn: Die Warnung der Nibelungengeschichte, daß das Streben nach Weltherrschaft stets in einer Katastrophe enden würde, wäre einer finsteren Ironie zum Opfer gefallen, hätten die Kulturdiplomaten der Weltherrscher von heute dem Nibelung-Kodex mit der Auszeichnung 'Weltkulturerbe' den Dolchstoß verpassen dürfen... frühestens die Gleichstellung mit einer Müllhalde wäre nämlich für dieses zeitlose Meisterwerk der politischen Kunst eine Katastrophe gewesen.


 

nievelheim